Neurologische Erkrankungen beim Pferd – Blogreihe Teil 1: Zittern in der Hinterhand – Was hinter dem Shivering-Syndrom steckt
- Jessica Münch
- 20. Mai
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 5. Juni
Neurologische Erkrankungen beim Pferd sind oft tückisch: Die Symptome sind schwer zu deuten, die Ursachen vielfältig – und die Folgen können dramatisch sein. In dieser Blogreihe nehmen wir fünf wichtige neurologische Störungen unter die Lupe: verständlich erklärt, praxisnah, mit Tipps zur Erkennung und zum Umgang im Alltag.
„Wenn das Nervensystem versagt – Neurologische Erkrankungen beim Pferd erkennen und verstehen“
Einleitung
Stolze Bewegungen, eleganter Galopp, präzise Hilfen – all das ist nur möglich, wenn das Nervensystem des Pferdes fehlerfrei funktioniert. Doch was passiert, wenn Nervenbahnen geschädigt oder gestört sind? Neurologische Erkrankungen beim Pferd zeigen sich oft schleichend und sind nicht immer leicht zu erkennen. In diesem Beitrag beleuchten wir die häufigsten Erkrankungen, wie sie sich äußern – und warum eine schnelle Diagnose entscheidend ist.
Was bedeutet „neurologisch“ überhaupt?
Neurologische Erkrankungen betreffen das Nervensystem – also Gehirn, Rückenmark, Nervenbahnen und deren Signalübertragung. Ist dieses System gestört, leidet vor allem die Koordination, Muskelkontrolle und Reaktionsfähigkeit. Viele dieser Erkrankungen führen zu auffälligen Bewegungsmustern oder Verhaltensänderungen.
Typische Symptome neurologischer Störungen beim Pferd:
Ataxie (unkoordinierte Bewegungen)
Muskelzittern oder ruckartige Bewegungen
Hahnentritt (übermäßiges Anheben der Beine)
Gleichgewichtsstörungen
Stolpern, Unsicherheit in Kurven
Verändertes Verhalten oder Kopfscheu
Reagieren nicht auf taktile Reize (z. B. Berührung an den Gliedmaßen)
Die Themen im Überblick:
Teil 1: Zittern in der Hinterhand – Was hinter dem Shivering-Syndrom steckt
Teil 2: Headshaking - Wenn die Nerven verrücktspielen
Teil 3: Wobbler-Syndrom & Ataxie – Unsicher auf den Beinen
Teil 4: Hahnentritt – Wenn das Bein zu hoch steigt
Teil 5: Weitere neurologische Erkrankungen – Herpes, Tetanus & Co.
Blogreihe Teil 1: Zittern in der Hinterhand – Was hinter dem Shivering-Syndrom steckt
Inhaltsverzeichnis:
1. Was ist Shivering?
Shivering ist eine neurologische Bewegungsstörung, bei der Pferde unkontrollierte Muskelzuckungen – meist in der Hinterhand – zeigen. Besonders auffällig ist das Zittern beim Rückwärtsrichten oder beim Aufnehmen der Hinterhufe, meist zeigt es sich wenn es Probleme beim Hufschmied verursacht.
2. Woran erkennt man Shivering?
Typische Anzeichen:
Schwierigkeiten beim Hufe geben
Zittern, Zucken oder „Festfrieren“ des Beins in gehobener Position
Schwierigkeiten beim Rückwärtsgehen
Schweifzucken bei manchen Pferden
Im Ruhezustand meist unauffällig
Shivering zeigt sich oft zuerst diskret, wird aber mit der Zeit stärker. Betroffene Pferde wirken dabei nicht schmerzhaft – sie „können es einfach nicht kontrollieren“.
3. Shivering besser verstehen – Anatomie & Pathophysiologie
Was passiert im Körper des Pferdes?
Shivering betrifft nicht die Gelenke oder Muskeln direkt, sondern deren neurologische Steuerung. Vermutlich liegt die Störung in der Signalverarbeitung im Kleinhirn oder im Rückenmark, insbesondere in den Arealen, die für Bewegungskoordination und Muskeltonus verantwortlich sind.
Was läuft falsch?
Das Gehirn sendet „falsche“ oder verzögerte Signale an die Muskeln
Die Muskulatur reagiert mit Überreaktionen: Zuckungen, Anspannung, Festhalten
Besonders betroffen: Beugemuskulatur der Hinterhand (M. semitendinosus, M. biceps femoris, M. flexor digitalis)
Welche Pferde sind davon betroffen?
Kaltblüter und Warmblüter sind überdurchschnittlich oft von Shivering betroffen, vor allem in Zuchtlinien mit starker Hinterhandmuskulatur. Eine genetische Veranlagung wird vermutet, ist aber bislang nicht eindeutig nachgewiesen. Die Erkrankung ist bei kleineren oder leichter gebauten Rassen seltener, aber nicht ausgeschlossen.
Welche Nerven sind bei Shivering betroffen? – Neuroanatomie im Überblick
Shivering gilt als zentralnervöse Koordinationsstörung – das bedeutet: Die Ursache liegt nicht in den peripheren Nerven (wie bei einer Nervenquetschung), sondern im Gehirn oder Rückenmark.
Betroffene Bereiche:
1. Kleinhirn (Cerebellum)
Zuständig für: Koordination, Feinabstimmung der Bewegung, Gleichgewicht
Eine Fehlfunktion im Kleinhirn kann zu überschießenden Bewegungen, Tremor und unkontrollierten Muskelaktionen führen – typisch für Shivering.
2. Pyramidenbahn (Motorische Bahnen vom Gehirn ins Rückenmark)
Kontrollieren bewusst ausgeführte Bewegungen
Fehlleitung oder Hemmungsverlust könnte unkontrollierte Muskelkontraktionen auslösen
3. Rückenmark – vor allem lumbosakraler Bereich
Hier liegen die Verschaltungen für die Hintergliedmaßen-Innervation
Wenn in diesem Bereich die motorischen Nervenimpulse gestört sind, entstehen unwillkürliche Muskelzuckungen
Welche Nerven führen die Bewegung aus? (peripherer Anteil)
Die Symptome werden letztlich über die peripheren Nerven sichtbar, auch wenn die Ursache zentral liegt.
N. ischiadicus → versorgt die Hinterhandmuskulatur
N. tibialis und N. peroneus (Abzweigungen des Ischiasnervs) → kontrollieren Beuge- und Streckmuskeln der Hinterbeine
Diese Nerven führen die Signale aus – die Fehlsteuerung kommt aber aus der „Zentrale“ (Gehirn/Rückenmark)
Kurz gesagt:
Shivering ist keine lokale Nervenschädigung, sondern eine zentral bedingte Bewegungsstörung, bei der vermutlich das Kleinhirn und motorische Bahnsysteme gestört sind.
Die Bewegungsimpulse kommen „verzerrt“ bei der Muskulatur an – das äußert sich als Zittern, Zucken oder Hochziehen des Beins.
4. Ursachen & Risikofaktoren
Bekannt:
Neurologische Degeneration (vermutet, aber nicht bewiesen)
Muskelstoffwechsel spielt eine mögliche Rolle
Unklar:
Genetische Disposition?
Zusammenhang mit PSSM (Typ 2)?
Entsteht meist im mittleren Alter
Risikogruppen:
Warmblüter & Kaltblüter häufiger betroffen
Wallache > Stuten
Pferde mit hohem Muskelanteil und großem Rahmen
5. Diagnostik – So erkennt der Tierarzt Shivering
Es gibt keinen eindeutigen Test für Shivering – die Diagnose erfolgt durch:
Klinische Untersuchung (Beobachtung des Bewegungsbildes)
Rückwärtsrichten, Hufe aufnehmen als gezielte Provokation
Ausschlussdiagnostik: Lahmheiten, Muskel- oder Gelenkerkrankungen ausschließen
In seltenen Fällen neurologische Tests (z. B. Reflexe, Gleichgewicht, Rückenmarkflüssigkeit)
.
6. Fütterung & Haltung – Was der Besitzer tun kann
Warum ist die Fütterung bei Shivering so wichtig?
Die Ernährung hat einen großen Einfluss auf die Muskel- und Nervenfunktion. Zwar ist Shivering neurologisch bedingt, doch die Muskeln sind das ausführende Organ – und deren Zustand kann durch eine angepasste Fütterung stabilisiert werden.
Besonders wichtig sind Nährstoffe, die die Reizweiterleitung, Muskelentspannung und Zellregeneration unterstützen.
Fütterungsempfehlungen bei Shivering:
Vitamin E
Antioxidans, schützt Nervenzellen und Muskelfasern
Dosierung: Je nach Bedarf 2000–8000 I.E./Tag (mit Tierarzt abklären)
Hinweis: Bei auffälligem Vitamin-E-Mangel kann eine Muskelbiopsie oder neurologische Untersuchung auf degenerative Erkrankungen (z. B. EDM) sinnvoll sein
Magnesium
Unterstützt die Muskelentspannung und reduziert Übererregbarkeit
Organische Formen (z. B. Magnesiumcitrat) sind besser bioverfügbar
Selen
Wichtig für den antioxidativen Zellschutz – aber Achtung: Überdosierung kann giftig sein!
Nur nach Blutbild gezielt ergänzen
Omega-3-Fettsäuren (z. B. Leinöl, Hanföl)
Wirken entzündungshemmend, unterstützen das Nervensystem
Vermeidung von Stärke & Zucker
Große Mengen Getreide (z. B. Hafer, Mais) können Muskelstoffwechsel negativ beeinflussen
Ideal: Heu ad libitum, ggf. Heucobs, strukturreiche Raufutterträger
Was kannst du als Besitzer konkret tun?
1.Frühe Beobachtung & Dokumentation
Bewegungsauffälligkeiten mit dem Handy filmen (z. B. beim Rückwärtsrichten)
Beobachtungen notieren: Wann tritt das Zittern auf? Nur bei Kälte? Nach Stehzeiten?
2.Tierärztliche Abklärung
Nicht abwarten oder „aussitzen“ – lieber früh den Tierarzt holen
Tierarzt über Zeitverlauf, Fütterung, Bewegungsprogramm informieren
3.Angepasste Bewegung
Tägliche, gleichmäßige Bewegung (keine abrupten Belastungsspitzen)
Aufwärm- und Abwärmphasen verlängern
Lange Stehzeiten vermeiden
4.Stress vermeiden
Besonders bei der Hufpflege Geduld zeigen
Routine schafft Sicherheit (z. B. immer derselbe Hufschmied, klare Abläufe)
5.Gute Haltungsbedingungen
Ausreichend Bewegung auf Paddocks oder Weide
Kein abruptes Aufstallen oder Wechsel von Offenstall auf Box
Sozialkontakt (Stressminderung wirkt positiv aufs Nervensystem)
6.Regelmäßige Blutkontrollen
Versorgung mit Vitamin E, Selen, Magnesium und anderen Mikronährstoffen regelmäßig überprüfen lassen
Nur gezielt supplementieren – zu viel kann genauso schaden wie zu wenig
7. Prognose: Was bedeutet Shivering für mein Pferd?
Chronisch und fortschreitend, aber individuell sehr unterschiedlich
Viele Pferde können jahrelang symptomarm geritten werden
Andere werden im Alltag eingeschränkt, z. B. bei Hufpflege, Schmied
Prognose hängt stark vom Management und Stresslevel ab
8. Fazit & Ausblick auf Teil 2: Headshaking
Auch wenn Shivering nicht heilbar ist, kann der Pferdebesitzer viel tun, um dem Tier ein gutes Leben zu ermöglichen. Fütterung, Bewegung und Stressmanagement sind die drei wichtigsten Säulen im Alltag. In Kombination mit einer engen Zusammenarbeit mit Tierarzt und Therapeuten lassen sich die Symptome oft über Jahre gut kontrollieren.
Im nächsten Teil der Reihe geht es um ein ganz anderes, aber ebenso wichtiges Thema:
Headshaking - Wenn die Nerven verrücktspielen.
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